Das Manifest

Stadtpolitische Grundsätze
Für die Zukunft der europäischen Stadt

 

Die Gesellschaft im Wandel

Nichts ist für ein Land auf Dauer so folgenreich wie die Entwicklung seiner Bevölkerung. Deutschland und Europa stehen vor einem neuen, unvertrauten Abschnitt ihrer Geschichte. In den kommenden fünfzig Jahren werden die europäischen Gesellschaften von Bevölkerungsschwund, Alterung und außereuropäischen Zuwanderern tiefgreifender verändert, als während des ganzen 20. Jahrhunderts. An die Stelle eines robusten demographischen Fundaments, auf dem die europäischen Volkswirtschaften ihre gesellschaftlichen Institutionen, ihre politischen Strukturen und individuellen Lebensplanungen gründeten, wird ein fragiles Gebilde treten, dessen Tragfähigkeit davon abhängt, wie klug die Lasten verteilt werden.

Die Stadt und die Gesellschaft

Die „soziale Stadt“ als Modell für den Interessenausgleich der Stadtbevölkerung steckt tief in der Krise. Gleichzeitig steigt der Umfang der sozialen Integrationsaufgaben der Städte gegenüber den Verlierern der gesellschaftlichen und der ökonomischen Modernisierung von heute und den ethnischen Minderheiten von morgen. Wie wirken sich die massiven Desintegrationsprozesse auf die Integration von Teilen der Mehrheitsbevölkerung und Minderheiten aus? Welche Konfliktpotentiale existieren und mit welchen Konflikten müssen wir in der nahen Zukunft rechnen? Sind die Einzelnen wie aber auch die Kollektive überhaupt noch konfliktfähig und das, insbesondere auch in denjenigen Sozialräumen, in denen der Problemdruck wächst?

Altern in der Stadt

Altern in der Stadt führt zu zahlreichen Marktanpassungen auf den Immobilienmärkten, auf den Gütermärkten, auf den Dienstleistungsmärkten. Ein besonderes Gewicht haben die Anpassungsbedarfe beim Wohnen. Für ältere Menschen ist die Wohnung der Lebensmittelpunkt. Die großen Herausforderungen an das Wohnen und zukünftige Wohnformen sind: Altern und Singularisierung, Integriertes Wohnen, Mehrgenerationen-Wohnen, Wohngemeinschaften. Altern ist verbunden mit Distanzempfindlichkeit und dem Bedürfnis der Nahräumlichkeit. Diese Kennzeichen des Alterns werten das Wohnen und dessen Nahbereiche als Ort des Lebenszusammenhangs auf. Die Wohnbedingungen Wohnung, Wohnumfeld, Plätze und Straßen, Wege und Parks müssen selbstbestimmtes Leben auch im Alter fördern und ein nachhaltiges gesellschaftliches Engagement der Alten ermöglichen. Die neuen Wohnwelten müssen die Selbständigkeit, die Aktivität und Kompetenz fördern und erhalten. Ein neuer, über kürzere Wege organisierter Lebenszusammenhang außerhalb der Erwerbsphase kann nun Wirklichkeit werden. Die Vision der kompakten Stadt der kurzen Wege muss nicht länger Vision bleiben. Die europäische Stadt kann zu einer Heimat im Alter werden. Eine wunderbare Herausforderung für die Stadtplanung, Stadtentwicklung und Architektur. Eine Chance für die Bau-, Immobilien-, Finanz- und Dienstleistungsgesellschaft.

Die Jungen in der Stadt

wollen die Verbindung von Familie und Beruf. Das ist nach wie vor ein zentrales Ziel der privaten Lebensgestaltung. Sie gehen davon aus, dass es Ihnen gelingt, den Wunsch nach Selbstbezogenheit und Selbstverwirklichung mit den Wünschen nach Familie und Beruf in einem Lebensentwurf zu verbinden. Für die Mehrzahl der Jungen in der Stadt sind Beruf und Familie gleichgewichtige Werte.
Bei der Realisierung dieses Lebenskonzepts, insbesondere bei der Realisierung einer verantwortlichen Elternschaft in der Familie, stehen die Jungen vor den verschlossenen Türen einer Gesellschaft, die weitgehend indifferent gegenüber Kinder und deren Bedürfnissen ist. Kaufmann prägte den Begriff der „strukturellen Rücksichtslosigkeit“ der Gesellschaft gegenüber der Familie. Diese Haltung bewirkt eine Privilegierung des Lebens ohne Kinder. Eine integrierte Stadtentwicklungspolitik muss in der Stadt die entsprechenden Bedingungen schaffen, damit die Jungen in der Stadt motiviert werden, Risiken auf sich zu nehmen, die bei der Verbindung von Beruf und Familie entstehen.

Die Fremden in der Stadt

Die Großstädte entstehen und wachsen durch Zuwanderung. Diese war schon seit eh und je ein konstitutiver Bestandteil von Stadtentwicklung. Hartmut Häußermann hat die europäische Stadt hinsichtlich ihrer sozialen Entwicklung als eine „robuste Integrationsmaschine“ beschrieben. Auch in der Zukunft werden die Bevölkerungsanteile von Menschen mit ausländischer Herkunft vor allem in den Großstädten wachsen. Der Migrantenanteil in den großen Städten wie Frankfurt, München und Stuttgart erreicht derzeit Spitzenwerte von 23% bis 30% der Stadtbevölkerung. In einigen Stadtteilen ist der Migrantenanteil noch viel höher. Die Zuwanderung aus europäischen Ländern geht zu Ende. Die wirtschaftlichen Unterschiede in der Westhälfte Europas sind nicht mehr groß genug, um die Menschen zum Verlassen der Heimat zu veranlassen. Dafür wächst der Zuwanderungsdruck aus den außereuropäischen Ländern. Diese Zuwanderer unterscheiden sich durch ihren anderen kulturellen Hintergrund fundamental von den europäischen Zuwanderern.

Die Politik

Das Vertrauen der Bürger in die Gestaltungskraft und den Gestaltungswillen der Politik ist dramatisch gesunken. Die geringe Wahlbeteiligung ist ein deutliches Zeichen für die Geringschätzung der Politik und gleichzeitig eine große Gefahr, insbesondere für die lokale Demokratie. Für die europäische Stadt ist die lokale, demokratisch verfasste Autonomie unverzichtbar. Vorausschauendes politisches Gestalten ist nur möglich, wenn man weiß, wohin die Reise geht und man den fundamentalen gesellschaftlichen Wandel nicht verdrängt, sondern diesen sorgfältig und kompetent analysiert und aus dieser Analyse die Perspektiven für die Gestaltung der städtischen Zukunft gewinnt. Der Mangel an Perspektiven ist die empfindlichste Schwäche der gegenwärtigen Politik.

Die nachhaltige Stadt

Die Erderwärmung, der Verlust an Biodiversität, die Zerstörung der Lebensräume: Nach Jahrzehnten der Sorglosigkeit zwingt uns die Bedrohung unserer ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensgrundlage zu einer grundlegenden Revision. In nahezu allen Bereichen unseres Lebens wird die Forderung zum verantwortlichen, nachhaltigen Handeln immer lauter. Besonders stehen dabei Stadtplaner und Architekten mit ihrem Auftrag zur Gestaltung des zukünftigen urbanen Wohnraums im Fokus. Für sie gilt der bekannten Hauptursache dieser Entwicklung, dem ungebremsten Verbrauch von Natur- und Umwelträumen, von Rohstoffen und Boden durch eine Handlungsweise entgegenzuwirken, die den natürlichen Zyklus von Wachstum, Verfall und Wiederverwertung erkennt und zur Handlungsmaxime macht: das nachhaltige Wirtschaften mit den Ressourcen dieser Erde.

Gelänge diese Umkehr und bildete sich in Architektur und Stadtplanung ein Gesamtkonzept heraus, in dem sich wirtschaftliche, ökologische und soziale Kriterien mit ästhetischen Aspekten im Gleichgewicht und in Wechselwirkung miteinander befinden, könnte man von einer zukunftsfähigen oder auch nachhaltig entwickelten Stadt sprechen. Hierfür braucht es konkrete und praxisorientierte Umsetzungswege, welche die Interessen der heutigen und künftigen Stadtbewohner berücksichtigen.